Ein Visionär

Zum Tod des Musikwissenschaftlers Georg Knepler

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 2 Min.
Georg Knepler nur als Musikwissenschaftler zu bezeichnen, würde der ganzen Tragweite seiner Persönlichkeit nicht gerecht werden. Er war mehr als ein Gelehrter, war Praktiker und Philosoph, war Antifaschist und unerschütterlicher Verfechter einer gerechteren Welt. War. Am Dienstag starb er wenige Wochen nach seinem 96. Geburtstag. 1906 in Wien geboren, studierte Knepler dort Musikwissenschaft und Komposition. Von 1928 bis 1931 begleitete er den Schriftsteller Karl Kraus bei seinen berühmten Wiener Lesungen am Klavier. Als Korrepetitor und Kapellmeister an verschiedenen österreichischen und deutschen Theatern tat er sich auch in den darauf folgenden Jahren zunächst als praktizierender Musiker hervor. Nach seiner Promotion an der Wiener Universität im Jahre 1931 ging er nach Berlin und arbeitete hier mit Bertolt Brecht, Helene Weigel und Hanns Eisler zusammen. 1933 kehrte Knepler nach Wien zurück und trat der Kommunistischen Partei Österreichs bei. Ein Jahr später emigrierte er nach England, wo er in London das deutschsprachige Exil-Theater »Laterndl« leitete. Nach Kriegsende arbeitete Georg Knepler als Kulturreferent der KPÖ in Wien, bevor er 1949 in die DDR ging. 1950 wurde er Gründungsrektor der »Deutschen Hochschule für Musik« in Ost-Berlin, die seit 1964 den Namen ihres ersten Kompositionsprofessors Hanns Eisler trägt. Von 1959 bis 1971 wirkte er am Musikwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität. Mit seinem zweibändigen Werk über die »Musikgeschichte des 19.Jahrhunderts« (1961), das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, erlangte Georg Knepler internationale Anerkennung. Die Arbeit, in der er musikalische Entwicklungen im engen Zusammenhang mit der Sozialgeschichte darstellt und erklärt, gehört zur musikhistorischen Standardliteratur. Mit den darin enthaltenen Ausführungen zur »Revolutionsmusik« betrat Knepler musikwissenschaftliches Neuland und bereitete den Boden für spätere Forschungen. Die Analyse der untrennbaren Verbindung von historisch-sozialen und musikimmanenten Prozessen liegt auch Kneplers Buch »Geschichte als Weg zum Musikverständnis« (1977) zugrunde. An der Humboldt-Universität sprechen Knepler-Schüler wie Gerd Rienäcker oder Christian Kaden bis heute von der Schärfe seiner Gedanken und der Wärme seines Charakters. Rienäcker, der eng mit Knepler befreundet war, berichtete seinen Studenten erst kürzlich voller Bewunderung davon, wie Knepler sich noch im hohen Alter am Computer einarbeitete und bis zum Ende unermüdlich neue Gedanken und alte Erfahrungen zu Papier brachte. Es bleibt zu hoffen, dass auch diese Dokumente aus dem Nachlass des großen Musikers, Wissenschaftlers und Visionärs in angemessenem Rahmen publiziert werden. Sein Geist war voller Ideen, die der Nachwelt erhalten bleiben sollten.
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